Stadt Heidelberg, Baden-Württemberg
"Das beste Mikrofon ist von so einem kleinen Gerät mit einer Birne hinten drauf – das ist besser wie jedes Flächenmikro, was wir für einen vierstelligen Betrag einkaufen."
Ausgangssituation
Die Stadt Heidelberg, eine Großstadt mit rund 160.000 Einwohnern in Baden-Württemberg, stand vor einer dramatischen Situation im Sitzungsmanagement. Als Stefan Lenz vor zweieinhalb Jahren die Leitung des Ratsbüros übernahm, fand er Protokollrückstände vor, die teilweise zwei bis drei Jahre zurückreichten. Was zunächst wie eine administrative Herausforderung aussah, entpuppte sich schnell als systemisches Problem.
Mit 48 Gemeinderäten und knapp 350 ehrenamtlich politisch Aktiven in verschiedenen Gremien sowie zahlreichen Bezirksbeiräten war die schiere Menge an zu dokumentierenden Sitzungen enorm. Die Stadt Heidelberg genießt einen ausgezeichneten Ruf für ihre progressive Digitalisierung und belegt im Smart City Index regelmäßig Top-10-Platzierungen. Diese Innovationskultur sollte sich als ideale Ausgangslage für die bevorstehende Transformation erweisen.
Herausforderungen
Die Last der Vergangenheit
Die Situation im Protokollwesen war alarmierend. Durch natürliche Mitarbeiterfluktuation waren Protokolle liegen geblieben, und mit jedem Personalwechsel wurde das Problem größer. Manchmal stieß man auf Entwürfe, die vor drei bis fünf Jahren erstellt worden waren – die Zeit war vorangeschritten, aber die Protokolle nicht. Diese alten Entwürfe halfen niemandem mehr.
Das Bürgerfragestunden-Problem: Die Protokollantin saß mit Kopfhörern am Schreibtisch, ein Fußpedal unter dem Tisch zum Stoppen und Zurückspulen. Für eine dreiminütige Wortmeldung benötigte sie zwei komplette Arbeitstage. Die gesetzlich vorgeschriebene Vier-Wochen-Frist wurde praktisch nie eingehalten.
Personelle Engpässe in Krisenzeiten
Die Situation verschärfte sich durch die schwierige Haushaltslage:
- Einstellungsstopp verhängt
- Zwei Vollzeitkräfte fluktuationsbedingt verloren
- Sechsstellige Personalkosten nicht mehr verfügbar
- Drohende Handlungsunfähigkeit ohne technische Unterstützung
Die verbliebenen Mitarbeiter:innen standen unter enormem Druck durch die ständig wachsenden Rückstände.
Der Datenschutz-Gordische Knoten
Stefan Lenz formuliert es klar: Das Problem lag nicht an der KI-Technologie selbst, sondern ausschließlich daran, solche Themen intern durchzubringen und die Datenschutzbeauftragten zu überzeugen.
Das Dilemma: 350 Ehrenamtler individuell um Einwilligung bitten? Die Befürchtung war real: Wenn auch nur einer die Unterschrift verweigert, könnte das gesamte Projekt scheitern. Die Verhandlungen mit der Datenschutzbeauftragten sollten drei bis vier Monate dauern – der eigentlich schwierigste Teil des Projekts.
Implementierung von SpeechMind
Ein strategischer Dreischritt
Phase 1 - Prozessanalyse (vor 2,5 Jahren)
Stefan Lenz begann systematisch mit einer betriebswirtschaftlichen Durchleuchtung aller Prozesse im Sitzungsdienst. Dabei half eine besondere Konstellation: Mehrere Gemeinderäte arbeiten an verschiedenen Hochschulen. So entstanden Kooperationsprojekte und Studienseminare, die frische Perspektiven einbrachten und schnell enormes Verbesserungspotenzial aufzeigten.
Phase 2 - KI-Evaluierung (vor 1,5 Jahren)
Eine Bachelorarbeit untersuchte systematisch 44 verschiedene KI-Tools. Das ehrliche Ergebnis: Die Qualität entsprach etwa dem Niveau einer sechswöchigen Praktikantin – engagiert, aber mit viel Nacharbeitsbedarf. Trotzdem traf Lenz eine mutige Entscheidung: Die Wette auf die schnelle Weiterentwicklung der KI-Technologie eingehen.
Intern gab es Widerstände. Kritiker verwiesen auf Halluzinationen und fragwürdige Ergebnisse. Doch Lenz blieb seiner Vision treu und schaufelte Kapazitäten frei für kontinuierliche Projektbetreuung.
Phase 3 - Pilotphase (Januar 2025)
Die sechsmonatige Testphase mit SpeechMind hatte klare Ziele:
- Live-Testing in echten Sitzungssituationen
- Kontinuierliche Optimierung von Sitzung zu Sitzung
- Paralleles Beobachten der KI-Entwicklung
- Lernen im Prozess statt perfekter Vorbereitung
Die datenschutzrechtliche Lösung: Kreativität statt Einwilligungen
Heidelberg entwickelte eine innovative Argumentation, die auf dem besonderen Status öffentlich gewählter Personen basiert. Lenz erklärt: Personen in öffentlichen Ämtern haben andere Rechte und Schutzrechte als Verwaltungsmitarbeiter:innen.
Die Kernargumente:
- Wenn eine öffentlich gewählte Person etwas in der Öffentlichkeit sagt, ist es auch öffentlich
- Natürlich hat jede Person ein Recht an der eigenen Stimme
- Aber sie kann der Protokollierung nicht widersprechen
- Sie muss lediglich informiert werden, dass KI und Cloud genutzt werden
Diese Argumentation überzeugte nach intensiven Verhandlungen auch die Datenschutzbeauftragte. Entscheidend waren starke Partner: Der Leiter des Amts für Digitales und Informationssicherheit vertrat eine progressive Position, und die Innovationsabteilung unterstützte bei Dokumentation und Messbarkeit.
Pragmatische Abgrenzung: Zunächst nur öffentliche Sitzungen. Bei nicht-öffentlichen Themen wie Personalien wäre der Datenschutz komplexer. Doch Heidelberg stellte fest: Diese Protokolle werden ohnehin mit 45 Standardtextbausteinen effizient erstellt – hier bestand keine Notwendigkeit für KI.
Technische Umsetzung: Von Profi bis iPhone
Im Hauptsitzungssaal: Professionelle Sennheiser-Mikrofone, Tonspur wird direkt über PCs abgezweigt – optimale Bedingungen für höchste Qualität.
Die Bezirksbeirats-Innovation: Hier entstand die eigentliche Überraschung. Die sechs Bezirksbeiräte tagen in Stadtteilen, oft ohne professionelle Technik. Das IT-Team evaluierte Flächenmikrofone für vierstellige Beträge, spezielle Konferenzanlagen – nichts überzeugte wirklich.
Dann die Erkenntnis: Ein handelsübliches iPhone ist die beste Lösung. Lenz berichtet mit hörbarem Erstaunen, dass dieses einfache Gerät besser funktioniert als jedes Flächenmikro für vierstellige Beträge. Die Anwendung ist denkbar einfach: iPhone in die Tischmitte, SpeechMind-App öffnen, auf Play drücken, fertig.
System-Integration: Die Schnittstelle zum Ratsinformationssystem Session brachte weitere Effizienzgewinne. Tagesordnungen und Teilnehmerlisten werden automatisch importiert. Bei 48 Gemeinderäten ist ein Dropdown-Menü deutlich effizienter als jeden Namen neu einzutippen.
Erzielte Verbesserungen und Vorteile
Messbare Effizienzrevolution
Die Innovationsabteilung führte eine systematische Erfolgsmessung durch und verglich Bearbeitungszeiten vor und nach der Einführung. Das Ergebnis: 80-90% Effizienzsteigerung.
Die neue Geschwindigkeit:
- Mittwoch: Haupt- und Finanzausschuss tagt
- Donnerstag: Grundbeschlussergebnisse sind fertig und öffentlich
- Dienstag: Komplettes Protokoll steht
Früher dauerte es mindestens vier Wochen, oft deutlich länger. Die gesetzliche Vier-Wochen-Frist, jahrelang nicht eingehalten, ist jetzt kein Thema mehr.
Personalkosten-Kompensation: Die beiden fluktuationsbedingt verlorenen Vollzeitstellen – Kosten im sechsstelligen Bereich – konnten durch die Effizienzgewinne kompensiert werden. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist beeindruckend positiv.
Die emotionale Dimension
Neben messbaren Zahlen gibt es die oft unterschätzte psychologische Komponente. Die ständigen Rückstände hatten eine emotionale Belastung geschaffen. Nach einer Phase der Trauer und des Verständnisses für die Veränderung sind die Mitarbeiter:innen nun dankbar für die vorausschauende Entscheidung – besonders angesichts des Einstellungsstopps.
Besondere Anwendungsfälle: Wenn es politisch wird
Der Social-Media-Streitfall: Während der Kommunalwahl 2024 in Baden-Württemberg wurde ein Stadtrat in sozialen Medien angegriffen – er soll etwas Unpassendes gesagt haben. Der Anruf kam um 17:30 Uhr mit der dringenden Bitte um Klärung bis zum Abend.
Früher bedeutete das: Bis 22 Uhr die komplette Tonspur durchhören, ein halber Arbeitstag für die Recherche. Heute ist es wie eine Word-Suche: Das Wort in verschiedenen Schreibweisen eingeben – Ergebnis in Minuten.
Bürgerfragestunden: Vom 2-Tage-Marathon zum Knopfdruck
Früher saß die Protokollantin zwei Arbeitstage für ein Wortprotokoll der Bürgerfragestunde. Heute kann das Transkript auf Knopfdruck extrahiert werden – die Funktion arbeitet hervorragend.
Datenschutz bei Bürgern: Anders als bei Gemeinderäten unterschreiben Bürger:innen ein erweitertes Datenschutzblatt, das die KI-Verarbeitung einschließt. Das funktioniert problemlos, da sie ein Anliegen haben und es öffentlich kommunizieren wollen.
Flexible Protokollstile auf Knopfdruck
Heidelberg nutzt verschiedene Detailgrade je nach Bedarf:
Verlaufsprotokolle: Ausführliche Diskussionsdarstellung mit allen Wortmeldungen. Bei komplexen Themen wie Trinkwasserversorgung kann das sehr lang werden. Lenz gibt zu, dass dies manchmal herausfordernd ist, da bei jeder Person geprüft werden muss, ob die Kernaussage erfasst wurde.
Ergebnisprotokolle: Umstellung auf kompakte Zusammenfassung – der Unterschied in der Länge ist sofort sichtbar. Die Diskussion wird auf Kernpunkte reduziert, deutlich einfacher zu prüfen.
Individuelle Anpassungen: Chat mit der “KI Marie” für Detailfragen. Beispielsweise kann angefordert werden, dass ein bestimmter Punkt noch mal separat ausgeführt wird – das System reagiert entsprechend gut.
Besondere Innovationen
Prozessoptimierung durch Sitzungsleitung
Das Namensspiel: Heidelberg hat den Sitzungsleitungen eine einfache Regel beigebracht: Personen namentlich aufrufen. Am Ende der Wortmeldung noch einmal danken und den Namen nennen. Diese einfache Maßnahme ersetzt aufwändige Sprechererkennung und funktioniert zuverlässig.
KI lernt Heidelbergerisch
Die KI hatte anfangs ihre Eigenheiten – und das sorgte durchaus für Erheiterung im Team. Der Haupt- und Finanzausschuss wurde nie erkannt, die KI fiel auf die Getreidesorte “Hafer” zurück.
Die lustigste Halluzination: Bei einer Diskussion über Kantinenschließung und Schüler, die zum Rewe einkaufen gehen, begann die KI plötzlich, Ernährungsvorschläge zu erarbeiten: “Was denn so ein Schüler in seiner Mittagspause am besten zu sich nehmen könnte, was es da im Rewe so gibt.” Das Team fand es amüsant – zeigte aber auch: Man muss immer drauf gucken.
Durch kontinuierliche Glossar-Pflege lernt die KI. Heute erkennt sie “Hafer” als Ausschuss, nicht als Getreide.
Regionale Kooperation: Verschiedene Wege, ein Ziel
Rhein-Neckar-Kreis: Spannenderweise genau entgegengesetzt – sie nutzen SpeechMind ausschließlich für verwaltungsinterne Prozesse, nicht für Ausschüsse. Lenz beschreibt dies als wertvolles gegenseitiges Lernen. Sie versuchen es nun in Ausschüsse zu bringen, Heidelberg will es in die Verwaltung tragen.
Stadt Mannheim: Intensiver Erfahrungsaustausch zum Thema KI-Protokollierung.
Verschiedene Datenschutz-Ansätze: Der Rhein-Neckar-Kreis hat Einverständniserklärungen der Kreistagsmitglieder eingeholt und nutzt Sprecherkennung. Heidelberg geht anders vor. Die unterschiedlichen Arbeitsweisen zeigen: Es gibt mehrere erfolgreiche Wege zum Ziel.
Ausblick: Phase 2 – Ausrollung in Fachämter
Die Innovationsabteilung arbeitet bereits an der nächsten Stufe. Das Ratsbüro tritt dabei in den Hintergrund, während die Fachämter direkt angesprochen werden sollen.
Geplante Anwendungsbereiche:
- Bürgermeisterrunden
- Sekretariatsgespräche mit dem Bürgermeister
- Amtsleiterrunden
- Kundengespräche im Sozialamt, Kinder- und Jugendamt
- Brandschutzbegehungen (Dokumentationspflicht!)
- Beliebige interne Besprechungen
Datenschutz neu gedacht: Bei internen Sitzungen könnte mit Einwilligungserklärungen gearbeitet werden – das ist deutlich handhabbarer in kleineren Gesprächsrunden als bei 350 Ehrenamtlern.
Lenz ist überzeugt vom Potenzial: Dies würde einen enormen Effizienzfortschritt für die gesamte Verwaltung bedeuten, da diese Arbeiten alle zeitintensiv sind.
Fazit
Die Stadt Heidelberg demonstriert eindrucksvoll, wie selbst in einer Großstadt mit massiven Protokollrückständen und komplexer Gremienstruktur eine erfolgreiche KI-Transformation gelingen kann. Der Schlüssel lag in strategischer Weitsicht: Früh in eine noch unausgereifte Technologie investieren, kombiniert mit pragmatischer technischer Umsetzung und kreativen datenschutzrechtlichen Lösungen.
Die iPhone-Revolution: Das einfachste Learning ist vielleicht das wertvollste – manchmal ist die beste Lösung nicht die teuerste. Ein Smartphone schlägt vierstellige Profi-Mikrofone.
80-90% messbar: Die von der Innovationsabteilung verifizierte Effizienzsteigerung liefert belastbare Zahlen für andere Kommunen, die vor ähnlichen Entscheidungen stehen.
Datenschutz ist lösbar: Auch komplexe rechtliche Hürden sind überwindbar, wenn man kreative Argumentationen entwickelt und starke Partner in IT und Innovation findet.
Change Management braucht Zeit: Eine “Trauerphase” einzukalkulieren und Mitarbeiter:innen emotionale Sicherheit zu geben, ist genauso wichtig wie die technische Implementierung.
Das Heidelberger Modell zeigt: Mit strategischem Weitblick, betriebswirtschaftlichem Denken und dem Mut zu unkonventionellen Lösungen lassen sich selbst jahrelange Problemlagen in kürzester Zeit in Erfolgsgeschichten verwandeln.
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